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Montag, 13. November 2023

Bad Cannstatt- Früher war alles besser?

Früher war alles besser!?

Artikel von Stefan Betsch

Pauschalisierungen gelten in der Psychologie als Übertreibungen, die meist aus dem Unterbewusstsein stammen. „Alles“ kann also früher kaum besser gewesen sein. Dazu sagte Manfred Rommel, der frühere Oberbürgermeister Stuttgarts einmal: „Nostalgie ist die Fähigkeit, darüber zu trauern, dass es nicht mehr so ist, wie es früher nicht gewesen ist.“

In Bad Cannstatt insbesondere soll alles so schlimm geworden sein. Dass auch andere Innenstädte sich massiv verändert haben, wird hier genauso ausgeblendet wie der natürliche Wandel der Zeit. Früher war es anders als heute, aber noch früher anders als früher. Und wann genau war denn diese wundervolle Zeit und was genau war damals besser? Viele Gastronomiebetriebe und Einzelhandelsunternehmen sind verschwunden und das aus verschiedenen Gründen. Aber andere sind nachgekommen und verglichen mit anderen Ortskernen steht Bad Cannstatt gut da.

Wir haben noch inhabergeführte Geschäfte und eine wirklich tolle Gastronomie- und Imbissszene. Dazu kommt die historische Altstadt, das Kurviertel, der Kurpark und viele andere schöne Ecken. Aber viele Menschen sehen darüber anscheinend effektiv hinweg. Stattdessen werden Feindbilder gesucht und gefunden: Es sind 1 Euro-Läden (hier wurde einer übrigens jüngst durch ein hübsches Café ersetzt), Shisha-Bars (Wie viele sind es denn genau?) und dass keine „Deutschen“ mehr auf der Markstraße seien. Auf die griechischen oder italienischen Läden oder Restaurants wird nicht geschimpft, die Zielgruppe ist klar ausgemacht. All das ist pauschal vorverurteilt, basiert kaum auf einer rationalen Grundlage und ist mit einer Menge Vorurteile unterfüttert.

Eine kleine Geschichtslektion: Bad Cannstatt ist seit Jahrhunderten eine Zuwanderungsstadt. Hier gab es schon immer Geld zu verdienen und Zuwanderung aus dem Ausland hat hier Tradition. Im dritten Jahrhundert haben die Alamannen die romanisierten Kelten vertrieben. Heißt das, dass wir am Ende alle Migranten sind? Ja, das kann man wohl so sagen. Später kamen Arbeiter hinzu, die im 18. Jahrhundert am Hafen und an den vielen Mühlen arbeiteten, im 19. Jahrhundert waren es die vielen internationalen Badegäste. Später während der Industrialisierung halfen uns viele ausländische Gastarbeiter dabei, das Wirtschaftswunder wahr zu machen. Angst vor Fremden gab es auch damals schon. Aber Migration heißt auch kultureller Austausch und Bereicherung.

Die These, auch in Kommentaren hier im Bad Cannstatt Blog: Es gäbe keine schwäbischen Lokale, keinen Rostbraten und keine deutsche Kultur mehr in Bad Cannstatt. Das kann niemand wirklich ernst meinen. Wem es zu wenig einheimische Angebote gibt, darf gerne eines der leerstehenden Lokale übernehmen und sich selbstständig machen. Genau das machen die so gerne kritisierten muslimischen Mitbürger. Sie gehen ins Risiko und versuchen ihr Glück. Würden mehr Eingeborene dasselbe tun, gäbe es auch mehr „deutsche“ Betriebe im Sinne der vielen, die hier Kritik üben. Logisch, oder? Aber es ist viel einfacher, sich zu beklagen, als etwas zu tun.

Dasselbe gilt für Tradition und Kultur. Wenn ein Stuttgarter Stadtbezirk Tradition hat, dann Bad Cannstatt. Hier gibt es die vielleicht älteste evangelische Fastnacht überhaupt, den ersten Fußballplatz Deutschlands, Bauwerke aus dem 15. Jahrhundert, das größte Schaustellerfest der Welt seit 1818 und seit 1717 die Tradition des Fischerstechens. Den Weinbau gibt es seit dem 8. Jahrhundert und der hat auch große Nachwuchssorgen. Der Wochenmarkt existiert seit dem 14. Jahrhundert. Das Cannstatter Kulturmenü, Cultur in Cannstatt, der Casinoclub, Musik am 13. uvm. bereichern die Kulturszene genauso wie viele Kulturvereine von Menschen, die aus anderen Ländern hergezogen sind. Wem das zu wenig Tradition und Kultur ist, darf sich sehr gerne in diesen Vereinen engagieren oder neue Initiativen gründen. Wer allerdings hofft, in unseren Brauchtumsvereinen auf Deutschtümelei zu stoßen, liegt falsch. Hier ist man allen engagierten Menschen gegenüber offen.


Ich bin nun seit über 40 Jahren ehrenamtlich in Bad Cannstatt aktiv. Ich habe schon als Kind geholfen, das Klösterle vor dem Abriss zu retten und das Cannstatter Geschichtsbuch herauszugeben. Auf meine Initiative geht die Einbahnstraßenregelung in der Altstadt zurück und ich helfe seit Jahrzehnten bei der Organisation und Moderation von Großveranstaltungen verschiedenster Art. Seit über zehn Jahren bin ich als Stadtführer hier selbstständig und gehe selbst ins Risiko, das andere lieber scheuen und es vorziehen, sich über alles nur zu beklagen. Wäre alles so schlimm, hätte ich sicher kaum eine Chance auf dem Tourismusmarkt in einer ach so heruntergekommenen Stadt. 

Bad Cannstatt ist eine Stadt in der Stadt mit 70.000 Einwohnern und damit ähnlich groß wie z. B. Schwäbisch Gmünd. Natürlich gibt es hier schönere und weniger schöne Ecken, das liegt in der Natur der Sache. Ich kenne auch die Schmuddelecken und weiß, wo es hakt. Das sind ganz andere Punkte als die stereotypen Feindbilder wie die Muslime, die Grünen, das Gendern oder Corona.

Was wir brauchen, ist ein ordentliches Parkleitsystem, damit Kunden und Besucher nicht herumirren oder abziehen. Auch eine Besucherstromlenkung und ein Fußweg- und Radfahrleitsystem ist nötig. Viele Beschilderungen sind fehlerhaft oder nicht vorhanden. Über die Renaturierung des Neckarufers wird seit Jahren nur geredet und der öffentliche Nahverkehr ist durch die Brückensperrungen noch schlimmer abgeschnitten wie Autos und LKWs. Fahrradwege sind meines Erachtens fehlgeplant und es fehlen an vielen Stellen noch ordentliche Verbindungen. Die Altstadtmöblierung ist längst beschlossen und kommt nicht und der Belag der Marktstraße ist von 1979 und ziemlich ramponiert. Der der Bahnhofstraße ist vor allem bei Nässe gemeingefährlich. Vor allem die Neckarvorstadt sollte dringend aufgewertet werden und das sind nur die wichtigsten Punkte, die mir spontan einfallen.

Immerhin wird das Bahnhofsviertel angegangen und durch die EM wird auch endlich der Bahnhofsvorplatz renoviert. Das Kaufhofareal wird schneller entwickelt, als wir dachten und Leerstände werden im Allgemeinen schnell wieder vermietet (anders als oft behauptet wird). Die vielen privatwirtschaftlich organisierten Veranstaltungen kämpfen mit bürokratischen Widrigkeiten, aber sie beleben und bereichern Bad Cannstatt Jahr für Jahr. Alleine, was auf dem Abendmarkt jedes Jahr los ist, ist doch ein Traum.

Ausgrenzung, Intoleranz, Polemik, stupide Vorurteile, Unwahrheiten und das Verbreiten haltloser Gerüchte haben in unserer Gesellschaft keinen Platz. Wenn Menschen ihren Abfall überall hinwerfen, ist dieses Verhalten ungeachtet von Herkunft oder Religion inakzeptabel. Wer sich dann aber darüber aufregt und Bilder von wildem Müll postet, anstatt ihn der Stadt zu melden, damit er beseitigt wird, liebt das Problem mehr als die Lösung. Auch wenn Menschen womit auch immer durch die Marktstraße fahren, dort illegal parken und Fußgänger belästigen und gefährden, ist das nicht zu billigen. Dieses und anderes Fehlverhalten mindert die Aufenthaltsqualität weit mehr als eine bunte Mischung von friedlichen Menschen.

Wer sich wirklich engagieren oder sachlich diskutieren will, darf sich gerne bei mir melden. Zusammen können wir viel bewegen, denn denkt daran: Heute ist die gute alte Zeit von Morgen!

2 Kommentare:

  1. Chapeau - das ist aber echt ein Klasse Artikel, sehr geehrter Herr Betsch! Vielen Dank und Ihnen viel Unterstützung!!!

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  2. Chapeau - das ist ein ganz wunderbarer und wichtiger Artikel: Vielen Dank, Herr Betsch und Ihnen viel Erfolg und viel Unterstützung!

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