Samstag, 16. August 2025

Cannstatter Liebesgeschichten - Theobald Kerner

Theobald Kerner und die Liebe

Der Cannstatter Dichter und Politiker Theobald Kerner. Er war zwei mal verheiratet, geboren 1817 in Gaildorf als Sohn des vielleicht heute noch bekannteren Arztes Justinus Kerner und seinem „Rickele“. Gestorben ist er 1907 im Kernerhaus seines Vaters zu Weinsberg. In Bad Cannstatt hatte er eine sehr gut gehende „galvano-magnetische Heilanstalt“ in der Villa Schöne, an der eine Gedenktafel an ihn von Pro Altstadt erinnert: heute Bad-Straße 36. Auch eine Straße in der Nähe wurde nach ihm benannt.

Villa Schön Bad Cannstatt


Theobald Kerner, wurde in eine unglaublich entsetzliche, umwälzende und zerrissene Zeit geboren, von der man gar nicht glauben mag, dass sie zugleich als die kulturelle Hochblüte Deutschlands gilt: die Zeit der „Deutschen Romantik“, welche die Liebe als das heilsame Erkenntnismittel entgegensetzte dem vielleicht nicht zwangsläufig mörderischen, aber doch als herzlos empfundenen Rationalismus, wie er mit der „Französischen Aufklärung“ allgemein tonangebend geworden war. „In der Erde liegt ein Gott begraben, der auferstehen will in der Liebe, in jeder edlen Tat“ formulierte beispielsweise ein nur 4 Jahre älterer Zeitgenosse unseres Theobald: Friedrich Hebbel.

Das deutsche Reich war von Napoleon nicht nur aufgelöst sowie sozial und politisch völlig neu geordnet worden, sondern auch ausgeblutet und im wahrsten Sinn des Wortes „verheert“ worden. Bekanntlich sollen ja allein von den 15.800 Männern, die das durch Napoleon zum Königreich erhobene Württemberg für dessen Russlandfeldzug zur Verfügung stellen musste, nur etwa 500 halb erfrorene, zerlumpte und traumatisierte zurückgefunden haben!


Der „Europa verheerende Kriegsgott“ Napoleon erlebte aber erst drei Jahre nach diesem so entsetzlich gescheiterten Russlandfeldzug sein vernichtendes „Waterloo“. Und bei dieser ja zur Legende gewordenen „Vielvölkerschlacht“ soll es im Gegensatz zur Russlandtragödie „nur“ zu 40.000 Toten gekommen sein, über die es aber allein schon in einem Zeitartikel zum 200. Jahrestag im letzten Jahr heißt:

„Wie viele Soldaten an jenem Tag ihr Leben auf dem Schlachtfeld verloren, weiß bis heute niemand genau. Man schätzt, dass am Abend 40.000 Menschen dort liegen, Tote und Verletzte, in bis zu drei Meter hohen Schichten. Wo die wenigen Feldärzte ihr Werk verrichten, türmen sich amputierte Arme und Beine, oft noch mit Teilen der Uniform bedeckt.

Die Bestattung der Toten bleibt den Bewohnern der umliegenden Dörfer überlassen. "Die Scheiterhaufen hatten acht Tage gebrannt, und bis dahin wurde das Feuer nur von menschlichem Fett in Gang gehalten", berichtet ein Besucher. Für die gefallenen Alliierten werden Gräben ausgehoben, aber schon der nächste Regen bringt viele Gesichter und Körperteile wieder ans Tageslicht. Ein Jahr darauf schließt man einen Vertrag mit einem Unternehmen, das die freiliegenden Knochen einsammelt und sie zu Dünger verarbeitet. So fanden sie, auf den Feldern, ihre letzte Ruhe.“

„Waterloo“ fand ungefähr 3 Jahre vor der Geburt unseres Helden statt, und ungefähr 3 Jahre nach dessen Geburt starb Napoleon in seinem Exil auf Elba, so dass Europas Königshäuser ihre alte Ordnung wieder restaurieren konnten.

Der im pietistischen Stuttgart geborene Hegel hatte Napoleon als den fleischgewordenen „Weltgeist zu Pferde“ gefeiert, der in eine neue und bessere Zeit führe. Aber die meisten Anderen sahen in ihm ebenso verständlich eher den apokalyptischen Antichristen, der ihre religiös fundierte Welt in den Untergang führte!

Und tatsächlich schien nicht nur Cannstatt ganz real vom Weltuntergang verschluckt zu werden! Denn wirklich taten sich die Höllentore auf, wenn auch zunächst unbemerkt von den Württembergern auf der anderen Seite der Welt! Und zwar durch einen ungeheuer gewaltigen Ausbruch eines Vulkans im fernen Indonesien, dem Tambora. Diese Eruption der Unterwelt soll heutigen Berechnungen nach ungefähr 17.000 Hiroshima-Bomben entsprochen haben und mit dieser Energie unvorstellbare 140 Milliarden Tonnen Lawa, Gestein und Asche ausgespuckt haben. Wahrhaftig eine höllische Verheerung der dortigen Inselbevölkerung. Aber selbst in dem von Napoleon bereits verheerten fernen Europa wurde es nun tatsächlich auch noch finster und kalt, weil die Sonne durch die in die Stratosphäre geprustete Asche verdeckt wurde. Es ward tatsächlich Heulen und Zähneklappern. Diese Zeit ging in die Annalen ein als „das Jahr ohne Sommer“ - und damit ohne Ernte, entsetzlicher Hungersnot und nie dagewesenen Elend.

Zum Glück aber für die Württemberger hatte Kronprinz Wilhelm, ihr späterer König, gerade die energische „kleine Katharina die Große“ aus dem fernen Russland geheiratet. Sie war nicht nur eine Enkelin „Katharinas der Großen“, sondern brachte als solche viel Geld und vor allem guten Willen mit. Auf sie geht die Landwirtschaftliche Akademie im Schloss Hohenheim zurück und der Cannstatter Wasen als erstes Erntedankfest nach all diesen apokalyptisch erlebten Ereignissen.

Und diese spätere Königin Katharina von Württemberg, die aber für alle Württemberger, vor allem aber für die Cannstatter also vielleicht die Größte ist – auch was die Beliebtheit ihres kurzen Lebens und Wirkens in Württemberg und ihres Liebesdramas mit König Wilhelm anbelangt – diese Katharina hat also tatsächlich sogar einmal die kleine, wenn auch etwas ältere Schwester unseres kleinen Helden aufgesucht – Marie hieß sie – um ausgerechnet sie kennen zu lernen! Es muss also etwas Besonderes mit diesem Schwesterchen gewesen sein!

Auch unser zu erratender Held liebte sein etwas älteres Schwesterchen über alles, und sie waren tatsächlich untrennbar wie Brüderchen und Schwesterchen aus dem Märchen der Brüder Grimm. Auch machte unser inzwischen jugendliche Held lauter übermütige Streiche und Dummheiten, nur wurde er nicht in ein Reh verwandelt. Oder zumindest nicht ganz! Denn er wurde durchaus in seinen Jugendjahren, als die Streiche immer wilder wurden, von seinem sehr eigenartigen Vater – man kann schon sagen: magisch behandelt! Jedenfalls wurde Theobald Kerner seinem Vater – vielleicht auch durch dessen „animalischen Magnetismus“?! - sehr sehr ähnlich. Und wenn man das Gesicht unseres Helden auf alten Fotos studiert, dann könnte man meinen, dass er wirklich so liebevolle Rehaugen hatte, dass er damit seinerseits die Frauenwelt hypnotisierte.

Zumal Vater Justinus Kerner, wie später Sohn Theobald bereits Arzt, außersinnliche Fähigkeiten hatte, weil er in der Kindheit selbst auch durch „Animalischen Magnetismus“ von einer Darmerkrankung geheilt worden worden war. So war Vater Justinus Kerner einer der berühmtesten Ärzte geworden mit seinem Bericht über eine damit behandelte Patientin von ihm, der „Seherin von Prevorst“, einem – heute würde man sagen: Esoterik- oder Wissenschafts-Bestseller. Die romantischen Ärzte, Wissenschaftler und Philosophen kamen fasziniert in das Kernerhaus, um die somnambulen Zustände und höchst erstaunlichen Schauungen der „Seherin von Prevorst“ zu untersuchen und zu diskutieren. Sogar Goethe setzte Kerner und seiner „Seherin“ ein Denkmal in seinem „Wilhelm Meister“ in Gestalt eines Arztstronomen. Denn allgemein war man der Meinung, die im „Animalischen Magnetismus“ angewendeten geistigen Kräfte stünden in Beziehung mit den Sternen- und Sonnekräften und seien letztendlich „die Liebe, die vom Himmel fließt. Das Wort „Animalisch“ ist auch nicht, wie oft dummer Weise übersetzt als „Tierisch“ zu verstehen, sondern als „Seelisch“! Im Lateinischen, der Sprache der Ärzte, heißt „Anima“ eben Seele“. Und man glaubte, dass Menschen sich unbewusst in Liebe zueinander hingezogen, oder von einander in Hass abgestoßen fühlen wie Magnete. Daher der Name „Animalischer Magnetismus“.

Die magischen Behandlungen durch seinen Vater waren damals übrigens zwar nicht gerade allgemein üblich, aber es waren „typisch romantische Wissenschaftsexperimente“, die die Menschen faszinierten. Denn nicht nur sein Vater beschäftigte sich mit der „Nachtseite des Bewusstseins“, sondern die Romantik war trotz – oder gerade wegen der beginnenden Neuzeit mit ihren technischen Erfindungen – auch die Blütezeit des sogenannten Spiritismus. Die Erfindungen der mysteriösen Elektrizität, die wunderbaren Errungenschaften der Dampfmaschinen und der Luftschiffahrt, all das erschien lediglich so sonder- und wunderbar wie dass Geister Gegenstände bewegen oder gar materialisieren könnten. Längst vergessen ist heute beispielsweise, das Karl Marx sein kommunistisches Manifest auf diesen Zeitgeist anspielend mit den Worten beginnen lässt: „Ein Gespenst geht um in Europa...“.

Der im Geburtsjahr unseres Theobald Furore machende Roman „Frankenstein“, in welchem eine Leiche durch Elektrizität zu neuem Leben erweckt wird, geht auf tatsächliche Experimente jener Zeit zurück, in denen man zum Tode verurteilten Verbrechern zunächst nur scheinbar wieder anfing leben zu lassen, indem man die leichen durch Stromstöße eben wieder anfingen ließ zu zucken, einzelne Gliedmaße zu bewegen, Grimassen zu schneiden usw. Und tatsächlich hat sich ja aus diesen Anfängen unsere heutige Reanimierungstechnik entwickelt! Auch unser Held wird sich in seinem späteren Leben der Erforschung der heilsamen elektrischen Möglichkeiten widmen und in Cannstatt sehr erfolgreich eine „galvano-magnetische Heilanstalt“ betreiben, in welcher sich sogar König Wilhelm behandeln ließ – wiewohl er zuvor unseren Theobald wegen revolutionärer Umtriebe zur 48-iger Revolution auf dem Hohenasperg hatte einbuchten lassen!

Das Wort „Romantik“ entwickelte sich zwar tatsächlich aus dem Wort „Roman“. Aber das Programm der Romantiker wurde dann nicht nur literarisch oder poetisch wie am Anfang, sondern auch wissenschaftlich und medizinisch, wenn auch ihr Interessengebiet vielen nur phantastisch-schaurig und „unglaublich“ vorkam wie die Geschichten von E.T.A Hoffmann oder Edgar Allen Poe. Unser Brüderchen Theobald und sein geliebtes Schwesterchen Marie wurden sogar abends von ihrem Vater tatsächlich zum Schlafen in die „Sargkammer“ geschickt! Dabei war Vater Justinus nun wirklich nicht schwarzmagisch oder gar sadistisch veranlagt, sondern liebte seinen Sohn über alles, so dass er dessen wirklich übermütigen und wilden Streiche mit Humor nachsah.

Vielleicht übertrieb es Vater Justinus sogar mit dieser seiner humorvollen Nachsicht, bis es zu spät war und es zu einem massiven, ernsthaften Zerwürfnis zwischen beiden kam. Denn unser Held, herangewachsen, verliebte sich in eine verheiratete adlige Dame, die Gast des väterlichen Hauses war. Oder war es umgekehrt, wie es der Vater dazustellen versuchte: dass die Adlige seinen über alles geliebten Sohn in ihrer dekadenten Verworfenheit den Kopf verdrehte?!

Wie auch immer: Liebe, gar Heirat oder auch nur Techtelmechtel, das war zu diesen Zeiten ganz unmöglich zwischen Bürgerlichen und Adligen. Und dann auch noch eine verheiratete Adlige: Marie Luise Elisabeth von Hügel, geborene Freiin von Uexküll-Gyllenband, geb 1811, gest. 1862 in Theobalds Heilanstalt in Cannstatt. Die also obendrein auch noch um 6 Jahre älter war als Theobald! Un-un-unmöglich!

Irgendeinen kleinen, sympathischen Mutterkomplex muss unser Held vielleicht doch durch seine übergroße Liebe zu seiner älteren Schwester entwickelt haben. Oder dadurch, dass er als einziger Junge auf Geheiß seines Vaters in eine Mädchenschule gehen musste? Seine spätere zweite Ehefrau pflegte ihm sogar Kinderspielzug zu Weihnachten zu schenken, worüber er sich immer sehr freute! Und das, obwohl diese zweite Ehefrau im geraden Gegensatz zu dieser ersten adligen deutlich jünger war als unser Held.

Jedenfalls ließ sich unser junger Held natürlich von seiner adligen und erfahrenen Herzensdame nicht abbringen, und allein die Namensgleichheit mit seiner so geliebten Schwester Marie wird’s auch nicht gewesen sein. Er heiratete sie, nachdem sie sich von ihrem Angetrauten für ihn scheiden ließ – obwohl Vater Justinus Himmel und Hölle in Bewegung setzte und es wie gesagt zum Bruch kam.

Unser Held fand mit seiner Liebsten Aufnahme im Hause eines mit dem Vater befreundetem Pfarrers: Eduard Mörike. Und dort kam es offenbar auch noch zur Geburt - oder gar Zeugung - der ersten Tochter! Kein Wunder, dass dieser Heißsporn typisch romantisch befindet:


Unaufhaltsame Liebe

Wild, unaufhaltsam strömt des Herzens Welle:
Befiehl ihr, jetzt hübsch stille soll sie stehen,
Soll sanft nach deinem kalten Rhythmus gehen -
Kann sie's? nein! nein! es ras't die heiße Quelle
Geschmolz'ner Lava gleich durch alle Adern,
Durch Arme, Muskeln, daß sie dich umfangen;
Zerschneide sie! sie leben fort als Schlangen.
Dies Herz gab Gott: was willst du darum hadern?
Ich hab's von Gott, doch nicht vom grämlich Alten,
Dem frommen Lieb- und Paradies-Verwehrer -:
Zeus gab es mir, der Semeleverzehrer,
Und brechen kann es, aber nicht erkalten.

Und an anderer Stelle meint er:

Willig bin ich hingesunken
Halb hast du gewunken mir.
Jetzt: will Gott einst meine Seele,
Muss er suchen sie in dir.

Ob die beiden nun wegen dem Töchterchen endgültig heirateten, oder es zum Töchterchen kommen ließen, um den Vater zum Einlenken zu bewegen: wie so oft schweißen ja solche Widerstände die Liebenden erst recht zusammen. Dieses erste Töchterchen starb zwar bald, wie so oft in diesen alten Zeiten, aber ihrer beider Liebe nicht! Die nächste Tochter muss eine für ihre Zeit „unmögliche“ Emanze geworden sein mit ebenso eigenwilligen Kopf wie ihr Vater: sie rauchte nicht nur Zigaretten und lebte zunächst in Stuttgart in einer Künstlerehe, selber malend, aber Kinderlos bleibend, sondern lebte sogar später eine Zeitlang in Brasilien – ein Benehmen, für das ein Alexander von Humboldt bewundert und verehrt wurde, aber doch nicht eine Frau!

Während den Jahren der gescheiterten deutschen Revolution von 1848 floh unser Held wegen bewaffneter revolutionärer Umtriebe ins französische Exil, weil er sich natürlich die liberalen Forderungen zu eigen gemacht hatte und „die Freiheit allzu lieb hatte“ wie er rückblickend meinte, oder wie er in einem Gedicht augenzwinkernd und doch mit blutendem Herzen mitteilt:

Freud', Trost und Leid schöpf' ich aus Einer Quelle;
Frei will ich sein und ließ' mich gerne binden.

O süßes Schmerzen! hoffnungsloses Hoffen! -
Wie läßt sich all' der Widerspruch vereinen?
Mit Recht mag ich behext den Andern scheinen;
Ich bin es auch: vom bösen Aug' getroffen,
Vom liebsten aller bösen, von dem Deinen.


Seine angetraute Marie folgte ihm ins Exil und versuchte ihn dort von seinen Revolutionären Absichten abzubringen: vergeblich. Erfolgreicher war sie in der Vermittlungsarbeit mit seinem Vater: die Korrespondenz führte im Wesentlichen sie.

Aber unser Held wurde, als er sich wieder nach Württemberg zu seinem kranken Vater traute, zu seiner Überraschung – und wie schon erwähnt - zur Festungshaft auf dem Hohensperg verdonnert. Das aber adelte ihn in den Augen seiner politischen Gesinnungsgenossen erst wirklich. Denn der Hohenasperg galt den 48-igern immerhin als „Hausberg der schwäbischen Intelligenz“! Und überdurchschnittlich intelligent und politisch weitblickend war er ganz bestimmt.

Ob er sich aber selber bewusst war, dass seine rücksichtslose Ehrlichkeit und Wahrheitstreue es ihm, seiner Familie und allen anderen so schwer machte? Der Familie jedenfalls war genau das ganz bestimmt bewusst! Sein Vater vermochte ihn zwar aufgrund seiner guten Beziehungen bald wieder heraus pauken, aber seine adlige bessere Hälfte war – die genau zwei Tage nach seiner Verurteilung mit ihrem gemeinsamen Sohn niedergekommen war – durch all das Drama und Unglück krank geworden und wird nur noch 10 Jahre zu leben haben. Seinen Sohn benannte unser Theodor übrigens nach einem Bruder seines Vaters, der als Anhänger der Revolution nach Frankreich gezogen war, dort als Jakobiner in französische Dienste trat - und als Armenarzt in Hamburg sein Leben beendete.

Man sieht: selbst für die großbürgerlichen und „betuchten Leute“ sind diese Zeiten ein verworrenes Auf und Ab von erwartungsvollen Hoffnungen und dramatischen Verlusten – falls sie überhaupt mit dem Leben durchkommen. So war z.B. im Gegensatz zu unserem Theodor - der wohlhabend und verehrt als Arzt, Dichter und Politiker sein langes und fruchtbares Leben beschließt - einer seiner wissenschaftlichen Gesinnungsgenossen und Vorreiter im Berlin des wiederauferstehenden Preußens durch die Protektion von Hardenberg und Humboldt zwar ein Kometenhafter Aufstieg zum Kultur- bzw. Wissenschafts-Minister gelungen, so dass er auch mit (fast) allen bekannten Romantikern seiner Zeit befreundet war: aber dieser heute völlig vergessene Arzt David Ferdinand Koreff, der den „Animalischen Magnetismus“ überhaupt salonfähig gemacht hatte und dafür auch Professuren einrichten ließ, de war umgekehrt nach der gescheiterten Revolution von 1848 völlig verarmt in Paris gestorben, nachdem er dort noch Heinrich Heine behandelte und die Werke E.T.A. Hoffmanns ins Französische bewirkt hatte. Von Talleyrand gab es das das schöne Bonmot über Dr. Koreff, dass er von allem etwas verstünde, sogar von Medizin, und E.T.A. Hoffmann hatte diesem geistreichen Parleur in seiner Novellensammlung „Die Serapionsbrüder“ als Vinzenz ein Denkmal gesetzt.

Und Preußen selbst?! Vom vernichtenden politischen Zusammenbruch durch Napoleon nach dessen Tod war es überraschend durch all diese romantisch orientierten Reformer wieder auferstanden aus Ruinen – und zu ihrem Entsetzen zur wirtschaftlichen und militärischen Großmacht aufgestiegen! In einem Gedicht unseres Helden heißt es:

Kurzer Traum

Ach, es war doch gar zu schön
Heute Nacht im Traume!
Bei einander standen wir
An dem Waldessaume,
Sahen nochmals scheu zurück -
"Lebet wohl, ihr Städter!"
Gleich darauf hat's drin gerauscht -
Küsst der Wind die Blätter?

Ja, es wurde wohl geküsst,
Aber nicht vom Winde:
Ich und du, mein Schatzerl, war's,
Küssten uns geschwinde,
Recht geschwind', als wüssten wir,
Wenn der Traum vergangen,
Dass wir dann viel Meilen weit
Nicht zusammenlangen.
Richtig war der Traum auch aus,
Eh' wir's halb nur dachten -
Ach, kein Wunder, dass wir jetzt
Noch nach Küssen schmachten!

Oder gar:

Das ist kein Leben -

Das ist kein Leben, nein, das ist ein Sterben,
Ist langsam Sterben, ist ein still Verbluten:
Das Auge trocken und versiegt die Tränen -
Das Herz nur lebt und in ihm seine Gluten.

Am Fenster sitz' ich Tag' und Nächte traurig -
O könnt' ich schlafen, würde von dir träumen -
Ich starre, als wie suchend, in die Weite:
O komme, Lieb, wie lange willst du säumen?

Die Wolken jagen durch des Himmels Felder,
Die Sterne blinken durch mit hellem Scheine -
Mein heißes Haupt lehnt an der kalten Scheibe:
Ach, wenn ich wäre dieser Wolken eine!

Hin über's Tal, die Berge wollt' ich fliegen
Zum stillen Haus - O Ruhe ihr, der Reinen!
Sie schlafe sanft und hör' nur, wie im Traume,
In tausend Tränen mich herniederweinen.


Theobald Kerner, ein beißender Kritiker der neuen deutschen Herrlichkeit und Großmachtphantasien, die zum deutsch-französischen Krieg 1870/71 führten, verliebt sich nach dem Tode seiner ersten Frau in eine 30 Jahre jüngere Tochter eines Industriellen: Mathilde Hochstädter. Diesmal stemmen sich vor allem die Eltern dieser neuen Frau gegen die Ehe „mit diesem viel zu alten Mann“. Alle Widerstände sind jedoch wieder vergeblich. Die Liebe ist eben doch oftmals stärker als Konventionen und finanzpolitische Ehe-Spekulationen.

Und auch diese Ehe wird glücklich, wenn sie auch Kinderlos bleibt. Die junge Frau ist jene, die ihren 30 Jahre älteren Mann mit Spielzeug glücklich machen wird – ohne das der irgendwie dement gewesen wäre! Im Gegenteil: hochgeehrt stirbt er in geradezu biblischen Alter im neuen Jahrhundert und wird neben seinem Vater, unter Schwarz-Rot-Goldenen Fahnen begraben – den Farben der neuen deutschen Großmacht, die bereits Kollisionskurs gegen die Kolonialmacht England aufgenommen hat und damit auf den ersten Weltkrieg zusteuert, und die diese Farben übernahm von jenem Lützower Freikorps, gegen das die Württemberger Truppen noch vor Napoleons Waterloo kämpften.

Theobald Kerner befand denn auch:

Welche Qualen schafft die Liebe:
Sie macht traurig und allein!
Und doch möchte ohne Liebe,
Ohne Liebe Niemand sein!

O Mond, die Liebe bringt viel Herzeleid;
Doch besser, tragen solche heiße Pein,
Als geh'n wie du in kalter Einsamkeit.

Zum 200. Geburtstag von Theobald Kerner hat eine vierfache Urenkelin der Familie, Michaela Köhler, mit Boris Fritz als Theobald diese alte Liebesgeschichte sozusagen wieder aufleben lassen in Gaildorf, wo Theobald von Justinus Kerners Rickele geboren wurde. Eine Lesung und ein Spaziergang auf alten Wegen fanden mit größter Beteiligung der Gaildorfer statt. Diese Urenkelin Michaela Köhler war meine „Hauptinformantin“, und die Dichtkunst der Kerners hat sich ganz offenbar in ihr weiter vererbt. Denn ganz im romantischen Stil heißt es zum Beispiel bei ihr:



Wenn sich beim Blicketauschen
Seelen ineinander baden
Hört man der Engel Flügelrauschen
Zum frohen Fest als Gast uns laden
Und nie vorher geahnter Klängelauschen
Beginnt zu spinnen einen seid’nen Liebesfaden
Um zweier gottgefügter Menschenherzen.
Lässt uns vergessen einen langen Wimpernschlag
Der ganzen Weltenschmerzen
Um einen Atemzug lang uns zu öffnen das helle Licht, den ew’gen Tag.

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