Die Cannstatter Pfarrerstochter Gudrun Ensslin
Vor 40 Jahren starb am 18. Oktober 1977 eine junge Frau im Stammheimer Gefängnis, eine Frau, verantwortlich für Terror, Gewalt und Tod, die aber auch Mutter, Tochter und Schwester war und deren Leben und Sterben und nicht zuletzt die Verbindung zu Cannstatt unter einem ganz dunkeln Schleier liegt: Gudrun Ensslin.„Uns bleibt es ein Rätsel“ (Helmut Ensslin)
Gudrun Ensslin |
Helmut Ensslin bezog 1958 mit seiner Frau Ilse und sechs Kindern das Pfarrhaus in der Wiesbadener Straße 76, um die Pfarrstelle in der Luthergemeinde anzutreten. Die Tochter Gudrun befand sich zu der Zeit im Rahmen des Christlichen Jugendaustauschs in den USA. Geboren am 15. August 1940 in Bartholomäe auf der schwäbischen Alb verbrachte sie dort eine behütete Kindheit und ab 1948 in Tuttlingen wird sie als freundliche und disziplinierte Schülerin wahrgenommen. Nach ihrer Rückkehr aus den USA machte sie am Königin-Katharina-Stift 1960 ihr Abitur und dort ist man von der attraktiven jungen Frau, die als leistungsstark und sozial engagiert bezeichnet wird, sehr angetan. Als begabtestes Kind der Familie Ensslin darf sie trotz Geldknappheit studieren. Die Schule schlägt sie für die Studienstiftung des deutschen Volkes vor.
Das Studium der Germanistik und Anglistik in Tübingen u.a. bei Ernst Bloch und Walter Jens eröffnet ihr nachhaltige Einblicke in die Welt der Literatur und insgesamt empfindet sie ihre Studienzeit als „Befreitsein“, obwohl sie vier Semester lang mit einer sehr strengen Tante eine winzige Ein-Zimmer-Wohnung in Waldenbuch teilt. Die Wochenenden verbringt sie, der Mutter helfend, zuhause im Cannstatter Pfarrhaus.
1962 tritt der chaotische und unangepasste, aber sie intellektuell und erotisch faszinierende Student Bernward Vesper (Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper) in ihr Leben. Sie werden ein Paar und als Gudrun Ensslin ab 1963 während des Lehramtsstudiums an der PH Schwäbisch Gmünd wieder zuhause im Pfarrhaus wohnt, muss Vater Ensslin Vesper wiederholt nächtens wegen des Kuppeleiparagraphen aus dem Haus werfen. 1964 gründen Ensslin und Vesper einen Kleinverlag: „Studio Neue Literatur“ mit der Cannstatter Adresse im Briefkopf. Bald darauf gehen beide nach Berlin, wo Gudrun Ensslin ein Promotionsstudium beginnt. Obwohl die beiden einen antibürgerlichen Lebensstil pflegen, verloben sie sich dennoch im Frühjahr 1965 ganz offiziell im Cannstatter Kursaal.
In Berlin leistet Ensslin als Unterstützerin Willy Brandts im Wahlkampf 1965 eine anerkannt gute Arbeit. Am 13. Mai 1967 kommt das Wunschkind Felix auf die Welt, doch da ist die Beziehung zu Vesper schon fast am Ende. Gudrun Ensslin beteiligt sich an den Demonstrationen der Studentenbewegung gegen die fehlende Auseinandersetzung der BRD mit dem Nationalsozialismus, gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg. Nach dem Schock der gezielten Tötung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizisten Kurras am 2. Juni 1967 bei den Demonstrationen anlässlich des Schahbesuchs in Berlin wird die Radikalisierung der Bewegung bundesweit unumkehrbar. Ebenso schicksalhaft wird für Ensslin 1967die Begegnung mit Andreas Baader, der so charismatisch auf sie wirkt, als kleinkrimineller Verführer aber eine völlig andere Sozialisation aufweist. Als die Familie ihn in Cannstatt kennenlernt, ist man entsetzt über die absolute Hingabe Gudruns an „diesen Typen“. Der Rest ist Geschichte:
Sie wollen in der aufgeheizten Atmosphäre etwas „Unerhörtes“ tun. Brandsätze explodieren am 2. April 1968 in Frankfurter Kaufhäusern; dann Untersuchungshaft, (in der Zeit erhängt sich Gudruns Bruder Ulrich auf dem Dachboden des Pfarrhauses in Cannstatt), Urteil am 31. Oktober 1968: drei Jahre Zuchthaus; Freilassung während der Revision. Nach deren Ablehnung Flucht ins Ausland. Sohn Felix bleibt in der Obhut Vespers. Rückkehr nach Berlin, Unterschlupf bei Ulrike Meinhof. Am 4. April 1970 wird Baader verhaftet und am 14. Mai 1970 während eines Freigangs von Ensslin und Meinhof und anderen spektakulär mit Gebrauch von Schusswaffen befreit. Gemeinhin gilt dieser Moment als Gründungsakt der RAF. Die Gruppe um Baader, Ensslin und Meinhof geht in den Untergrund. Bernward Vesper nimmt sich am 15. Mai 1971 das Leben, danach gibt Ensslin ihren Sohn zu der konservativen Arztfamilie Seiler auf der Schwäbischen Alb dauerhaft in Pflege.
Im Frühjahr 1972 tobt in Deutschland der Terror der 1. RAF-Generation mit Bombenanschlägen, Toten und Verletzten. Nach ihrer Festnahme im Juni 1972 kommen Raspe, Baader, Ensslin und Meinhof 1974 ins umgebaute Stammheimer Gefängnis, wo am 21. Mai 1975 der Prozess gegen sie beginnt, während draußen die Gewalt durch Nachfolgeorganisationen fortgesetzt wird. 1976 sucht Meinhof den Freitod. Die Eltern Ensslin in Cannstatt ringen um eine angemessene Haltung zwischen elterlicher Fürsorge und Vernunft. Ihre Tochter unternimmt gemeinsam mit den anderen Häftlingen vier lebensbedrohliche Hungerstreiks. Mutter Ilse startet im Frühjahr 1977 einen Spendenaufruf für eine Zahnbehandlung ihrer Tochter, der von Claus Peymann, dem Intendanten des Staatstheaters Stuttgart, am Schwarzen Brett ausgehängt wird. Die Aktion hat ihm beinahe den sofortigen Rauswurf eingebracht.
Nach der Verurteilung zu lebenslanger Haft am 28. April 1977 überrollt eine unvergleichliche Terrorwelle Deutschland und gipfelt in der Entführung und Ermordung Hans Martin Schleyers und der Entführung der Lufthansamaschine Landshut nach Mogadischu. Nach der Befreiung der Geiseln erschießen sich Raspe und Baader in der Nacht zum 18. Oktober 1977. Gudrun Ensslin erhängt sich in ihrer Zelle. Manfred Rommel erlaubt gegen wütende Proteste, nicht zuletzt auf Wunsch der Familie Ensslin, eine gemeinsame Grablegung am 27. November 1977 auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart.
Da man der Komplexität des Themas nicht gerecht werden kann, sei in diesem Fall die Kürze und der Cannstatter Blickwinkel erlaubt.
Helga Müller
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